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Rede des Schriftstellers Hans Brinkmann zur Eröffnung der Ausstellung <Kaltfieber> von Jürgen Höritzsch in der Galerie Borssenanger, Chemnitz am 25. April 2014

von Hans Brinkmann

Meine Damen und Herren,

im Jahr 1905 schrieb Siegmund Freud die Abhandlung "Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten". Darin arbeitete er den Unterschied zwischen dem Witz und dem Traum heraus.

Fünf Jahre zuvor war Freuds "Traumdeutung" erschienen, auf die er sich beziehen konnte. "Der wichtigste Unterschied", so Freud, "liegt in ihrem sozialen Verhalten. Der Traum ist ein vollkommen asoziales seelisches Produkt; er hat einem anderen nichts mitzuteilen ... der Witz dagegen ist die sozialste aller auf Lustgewinn zielenden seelischen Leistungen." — Klar, möchte man meinen. Wer einen Witz halbwegs gut erzählt, erntet allgemeine Heiterkeit, wer einen Traum erzählt, berührt nicht selten unangenehm, zumindest ruft er Befremden hervor. Es empfiehlt sich dann, die Situation durch einen Witz etwas zu entkrampfen.

Ähnlichkeiten zwischen Traum und Witz erkannte Freud in der Struktur, vor allem in der abkürzenden Verknüpfung normalerweise weit auseinanderliegender Elemente, in der Doppelbödigkeit und in der Aufdeckung eines verdrängten Inhalts. Wenn er in der Einleitung schreibt: "Ein neuer Witz wirkt fast wie ein Ereignis von allgemeinstem Interesse, er wird wie die neueste Siegesnachricht von dem einen dem anderen zugetragen", stolpern wir über den Vergleich mit der Siegesnachricht. Wir drehen ihn augenblicklich um und halten den Sieg für einen Witz. Da ein Sieg aber immer eine ernste Sache ist, fragen wir uns fast gleichzeitig, worüber der Witz gesiegt haben könnte. Da tut sich ein Abgrund auf. Nicht umsonst ist im Wort Witz das Wort Weisheit verborgen, die Weisheit ist gewissermaßen eingeschrumpft auf den Witz wie die Weinbeere zur Rosine.

 Die Gemälde und Grafiken von Jürgen Höritzsch entbehren nicht des Witzes, öffnen ihn aber in Richtung des Traumhaften. Mit der Zuspitzung auf eine Pointe allein lassen sie es nicht bewenden. Andreas Altmann, mit dem gemeinsam der Künstler das Graphik-Text-Buch "Frost" erarbeitete, das Sie hier in Einzelblättern und als gebundenes Exemplar einsehen können, ... Andreas Altmann also schrieb in einem Gedicht von [Zitat:] "Körpern, die in ihren Geistern schweben". Dieses von einer Aura umgebene Erscheinen der herbeizitierten Gestalten hebt das Dargestellte auf die Bühne, macht die Erzählung theatralisch und rehabilitiert sie davon, bloß Vorgeschichte einer Schlusspointe zu sein.

Blick in die Ausstellung

Der Witz, besser: der Humor von Jürgen Höritzsch unterhält eine deutliche Beziehung zum kollektiven Unbewussten. — Heutzutage ist der Ort, an dem sich das kollektive Unbewusste am greifbarsten austobt, das Internet, dieses schier unerschöpflich scheinende Archiv ungefilterter Informationen, auf die freilich mithilfe von Suchmaschinen zugegriffen wird, was den Anschein von Beherrschung suggeriert, der ganz und gar Selbstüberschätzung ist.

 Jürgen Höritzsch nutzt dieses Bildarchiv auf der Suche nach Spuren der kollektiven Erinnerung an Wahnhaftes, Traumatisches, Verrücktes. Mich erinnert das an den amerikanischen Dichter Alan Ginsberg, der 1956, wie er im gleichnamigen Gedicht schrieb, einen "Supermarkt in Kalifornien" betrat "auf der Suche nach Bildern".

Das nahm natürlich die Praxis der Pop-Art auf (oder vorweg), das tiefgründig Geistige genau dort zu suchen, wo es der Alltagsverstand am wenigsten vermutet: an der Oberfläche von Einkauf und Verkauf. Schon Karl Marx nannte ja "die große Industrie" das "aufgeschlagene Buch der menschlichen Psychologie". Um wie viel mehr gilt das für den Ort gegenwärtiger Verwertung, Verhökerung und Verramschung des kulturellen Gedächtnisses der Menschheit, eben "das Netz".

 Aus dem nun zieht Jürgen Höritzsch nicht wahllos Bilder hervor, sondern ganz bestimmte. Sie sind nicht Vorlage, sondern Material. Sie werden bearbeitet. Wichtig ist: sie tragen bereits ein gehöriges Maß an Selbstüberschätzung der Protagonisten — oder, wenn es sich um Abbildungen von Gebäuden bzw. Gerätschaften handelt, der Erbauer — in sich. Durch Transformation in ein andres Medium und intelligente Kombination verschiedener Zitate treibt Jürgen Höritzsch diese immanente Hybris des jeweils Dargestellten noch einen Zacken weiter. Finden und Entfalten — so könnte man den Umgang des Künstlers mit seinen Secondhand-Materialien beschreiben.

Freud leitete die Wirkung des Humors aus der Ersparnis her. Erspart werden uns die üblicherweise erwartbaren, sämtlich mit Unlust besetzten Gefühle: Angst, Furcht, Ekel, Sorge, Mitleid usw., auch gerne "negative" Emotionen genannt — ersetzt werden sie durch das überraschende, beglückende Gefühl, dass es auch ohne sie geht - jedenfalls für den Moment. Es ist also eine gewisse Fallhöhe, nennen wir sie die Fallhöhe des Steins vom Herzen, dafür nötig. Auf diese kommt der Künstler, wenn er Motive aus der Zeitgeschichte — von der Etappe des ersten Weltkriegs bis zur Plattenbau-Ruine heraufholt und grafisch oder malerisch verfremdet zum Sinnbild macht, aus diesem Sinnbild aber dann den innewohnenden Widersinn herausleuchten lässt.

Auffällig ist, dass das Kritische im Privaten gesucht wird, der Künstler verhält sich bei der Netzrecherche wie ein Stöberer auf dem Dachboden. Oder auf der berühmten Müllhalde der Geschichte, die in Wahrheit ja der Boden aller Gegenwart ist. Er durchwühlt die Nachlässe einer verblassten Aktualität und sucht nach dem, was nicht in die gängigen Verarbeitungsmuster passt.

Ein großes Thema für ihn ist das patriarchalische, selbstherrliche Auftrumpfen, seine Lächerlichkeit und — nichtsdestotrotz — Macht und Gefährlichkeit, — was ihn alles aber kaum in den bekannten Repräsentationsformen interessiert; statt dessen sucht er es im Alltag, in den Falten und Nischen auf, in den scheinbaren Freiräumen, worin es den Sturz der mächtigen Männer überlebt und immer schon auf die Errichtung des nächsten großen Popanz wartet.

Kleines Glueck, Malerei auf Leinwand
Kleines Glück

Ich wähle ein erstes Beispiel deutlich jenseits der offiziösen Politik. "Kleines Glück", das Bild mit den Strandkorbschönheiten, ihren Eltern oder Nachstellern und dem kleinen hässlichen Nichtschwimmer, den der Blitz trifft ... oder was ist das, was da aus heiterem Himmel heruntersaust. Ein Zufall, vielleicht ein Knick in der Fotografie? Oder in der Pupille? Vielleicht ein Kondensstreifen, der aus ganz anderem Grund da am Himmel steht, überhaupt nicht, um in den Kopf des Kindes hineinzufahren? Oder ist es ein aufsteigender Seufzer des Gequälten, der mit der Schwimmhilfe um den Bauch als Depp der Familie herhalten muss? Als einzig Unfertiger unter den so schön ins Bild Passenden. Der Kleine, der noch nicht geschnallt hat, wie schön das hier alles gefunden werden muss, wie erstrebenswert, weil so hübsch in den Sand gesetzt.

Was halten diese Leute für das Ereignis, auf dessen Eintreten sie warten? Was muss ihnen passieren, damit sie außer sich geraten? Und kennen wir das alles wirklich nur in der dritten Person, nicht auch in der ersten, Einzahl wie Mehrzahl?

Derart panisch fährt das Ungemütliche oft auf Höritzschs Bildern in die Gemütlichkeitshölle hinein.

Wenn ich eben sagte, der Künstler öffnet den Witz in Richtung des Traums, muss ich hinzufügen: in Richtung der Traumdeutung, sprich: der Aufklärung des Traums.

Neue Glocken, Malerei auf Leinwand
Neue Glocken

Aufklärung heißt nicht, die platteste aller Wahrheiten favorisieren, sondern Suche nach dem erhellendsten Moment. — So kann ich erklären, dass "Neue Glocken" — siehe das entsprechende Gemälde — selbstverständlich immer ohne Klöppel angeliefert werden, weil sie sich so sicherer transportieren lassen. So praktisch, so banal. Wenn aber die zölibatären Geistlichen in ihren Glockenröcken zwischen den leeren Resonanzkörpern herumstehen, spricht ihr Auftritt mindestens eine tiefere Wahrheit an. Das Bild öffnet den Raum für eigenes Weiterdenken. Das hat nichts mit augenzwinkernder Sklavensprache zu tun, es befreit, wenn es nicht nur als Witz, wenn es auch als Bild eines Wahns genommen wird.

Sich balgende Hasen und Katzen (2. Beispiel: "Die Anarchie") auf der weiten Fläche einer Industriebrache, die an ein bekanntes Flughafen-Debakel erinnert, erheben im Gemälde einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, den ein entsprechendes Foto nicht erheben könnte. Es ist wie mit dem Theater und dem Film — der Anspruch meint: Klassizität. Wie er jeweils eingelöst wird, hat mit der Klasse, der Technik, aber auch mit der Form und dem Glück des Künstlers zu tun. Mit dem Anspruch allein ist es freilich nicht getan.

Wie übersetzt Jürgen Höritzsch sein bildkombinatorisches Denken in Malerei? — Es gibt ja gegenwärtig eine gewisse Konjunktur der Hinweise auf die photografische Herkunft von Bildmotiven bzw. die Tatsache, dass alles, was man heutzutage zu sehen bekommt, immer schon fast zu Tode fotografiert worden ist. Nichts ist dagegen zu sagen. Jürgen Höritzsch geht diesen Weg jedoch nicht.

Er ahmt den photographischen (oder digital-photographischen) Blick nicht nach, sondern übersetzt ihn in eine Naivität zurück, wie sie vor etwa hundert Jahren den Fotografen die Kamera, den Malern die Pinsel führte. Damals glaubten auch alle, sie nähmen die Wirklichkeit fotografisch auf, wie sie ist, bis ihnen die ersten Bilder von Pferden mit acht Beinen vorlagen. Und die Maler suchten nach dem Sinn ihrer langsamen Arbeitsweise. Diese Naivität wird nun fast wieder hergestellt. Fast. Ohne Ironie ist das nicht zu machen. Schon gar nicht in einer Zeit, da Bildbearbeitung nicht nur nicht mehr das Privileg der Maler und Graphiker ist, sondern überhaupt kein Privileg mehr. Bilder bearbeitet heute jeder. Und viel Zeit damit verbringen kann auch jeder, der sie hat.

Arctic Team, Malerei auf Leinwand
Arctic Team

Dennoch behaupten die älteren Bildmedien gegenüber den jüngeren einen höheren Ewigkeitswert. Sie kommen einfach von weiter her, so traut man ihnen zu, auch länger zu halten. Das muss nicht stimmen, glaubwürdig muss es sein. Denn es trifft eine Aussage. Eine, in der ein Hase, der in arktischer Gegend irre gegen das Knie eines Polarforschers läuft, mit der Absurdität seiner Erscheinung für die Authentizität und Bedeutsamkeit des Bildes bürgt. Genauso ist die Welt beschaffen, der Hase bezeugt es.

Und "Ein Abend mit Wotan und Bambi" — mit Hund und Reh und lasziver Beinentblößung beim staksigen Aussteigen aus dem Wagen — hat so viel Atmosphäre vom Film, etwa eines David Lynch, übernommen, dass er mühelos als genauso geträumt durchgeht.

Naivität führt nach einer Zeit ideologischen Schlauseins und Um-die-Ecke-Denkens wieder auf die einfachen Fragen zurück. Das ist ihre Stärke, auf die beispielsweise der späte Brecht immer wieder hinwies. Darin liegt ein Gutteil aller Komik begründet.  

Jürgen Höritzsch sucht nicht nur nach einer zeittypischen Form, er sucht auch fortwährend nach von den Zeitläuften veränderten Inhalten. Das macht mir seine Kunst wichtig. Ich wünsche ihm Glück bei dieser Arbeit, der Ausstellung viel Erfolg und Ihnen, meine Damen und Herren, weiterhin einen anregenden Abend.

Danke.